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Mein Kampf gegen die Uhr

„Die Zeit ist alles, der Mensch ist nichts mehr, er ist höchstens noch die Verkörperung der Zeit.“ Der das schrieb, war Karl Marx, und das vor gut 170 Jahren. Und der das zitierte, ist Fritz Reheis, der ein bemerkenswertes Buch über die Kreativität der Langsamkeit geschrieben hat, vor über 30 Jahren. Das ist deshalb interessant, weil es zeigt, dass die Frage, die mich beschäftigt, keineswegs eine neue ist. Neu ist auch nicht, dass es die Zeit in einem objektiven Sinne gar nicht gibt, dass uns Uhren das lediglich vorgaukeln, aber dass wir als Wettkämpfer auf eben diese Gaukelei angewiesen sind, um zu beweisen, dass wir in der Zeit sind und gut im Rennen liegen. Der Kerngedanke dazu stammt übrigens auch nicht von mir, sondern von Rüdiger Safranski, der das Buch Zeit geschrieben hat.


Ob der Kampf gegen die Uhr damit gewonnen ist, weiss ich noch nicht.

Ohne Uhr geht nix.

Das Leben von ambitionierten Sportlerinnen und Sportlern, insbesondere im Ausdauersport, ist seit jeher durch die Zeitnahme, und heute durch Computer gesteuert, um nicht zu sagen: diktiert. Computer am Arm, in der Tasche oder im Rucksack, am Velo am Lenker und in der Kurbel, zuhause dann für die Auswertung braucht's einen Laptop, ein Tablet, mitunter reicht auch das Smartphone. Wenn ich wissen will, wie fit ich mich fühlen und ob ich stolz auf mich sein darf, frage ich nicht mehr meinen Bauch, sondern mein Smartphone oder meine Smartwatch. Die sagt mir ziemlich unverblümt, ob ich meine Ziele erreicht habe oder nicht. Es wird mir noch viel mehr gesagt: dass ich nicht genug Kalorien verbraucht habe, dass ich gut geschlafen habe, wer angerufen hat und ob ich gleich zurückrufen soll, dass ich viel zu wenig Schritte gemacht habe. Diese Funktion gefällt mir besonders – mein Smartphone teilt mir meine exakte Schrittzahl mit (irgendwann werde ich mal mitzählen, um das zu verifizieren). Und extrem oft wird mir gesagt, dass ich mehr für meine Gesundheit tun sollte. Das ist deshalb so lustig, weil ich beinahe täglich sportlich unterwegs bin, und wenn nicht, viel laufe – aber das Teil schlicht nicht immer dabei oder aber ausgeschaltet habe. Aber anstatt, dass es beleidigt ist und mich fragt, wieso hast Du mich zuhause liegen gelassen (also da muss mal ein guter Algorhythmiker ran), kehrt es den Spiess um und beleidigt mich. Ziemlich smart.


Beim Sport selbst kann ich überprüfen, ob der Puls dort ist, wo er sein soll, wie schnell ich bei welchem Puls bin, meine Leistung und meine Route kann geplant werden, einzelne Streckenabschnitte werden gesondert analysiert, genau wie auch mein "nightly recharge" und und und – es sind so viele Funktionen, du kannst sie gar nicht alle einsetzen (lies: brauchen).


Ohne Uhr geht's trotzdem.

Man merkt möglicherweise bereits, in welche Richtung ich steuere.

Meine erste Pulsuhr hatte ich, kurz nachdem ich sie bei Pauli Kiuru am Ironman Hawaii gesehen habe. Ein einfaches Teil. Es gab Auskunft darüber, wie hoch der Puls ist, der dich zur Strecke bringt, dass du seit 2 Stunden 16 Minuten und 23 Sekunden unterwegs bist, dass es jetzt 18.57 Uhr ist. Das war's. Rudimentär und ausreichend. Ich liebte sie. Sie zeigte mir und anderen, dass ich ein Sportler war, der Wert darauf legte, effizient zu trainieren. Ich tat's trotzdem nicht, weil mir das oft schlicht und einfach zu hart war. Wenn der Puls nach oben schnellte, dann machte mich das nicht unbedingt stolz, sondern madig. Trotzdem: ich trainierte fürs Leben gerne und viel. Wenn auch viel zu langsam.

Nach ein paar Jahren war er/sie am Ende, mein HRM, meine Uhr. Die nächste konnte mehr. Die übernächste noch mehr. Beide machten irgendwann vor mir schlapp. Zeitgleich begann das mit der Übertragung auf den PC. Wie praktisch, dachte ich, das vereinfacht vieles. Keine selbstgebauten Excel-Tabellen mehr, sondern vorgegebene und mit wenigen Handgriffen respektive Fingertippsen individuell anpassbar. Auch der Radcomputer ist ein gelungenes Beispiel dafür, was Nanotechnik ermöglicht.


Ich realisierte nun allerdings mit einer gewissen Verwunderung, wieviel zusätzliche Zeit die Auswertung von Trainingsdaten in Anspruch nahm. Dann kam die Wattmessung. Team Sky und insbesondere Bradley Wiggins trainierten streng nach Vorgabe. Mir als grundsätzlich einfachem Menschen wurde das es bitzeli zu viel, mir fehlte zunehmend der Spass. Mich nur nach dem Diktat eines Computers zu richten liess mich zudem an Big Brother denken. Der Sinn des Ganzen kam mir abhanden, und mein schrittweiser Ausstieg aus der Trainingsmessung begann. Zumal es nur noch darum ging, den rundesten Tritt zu finden oder das idealste Tempo. Beim Velo wirst du vermessen und ausbalanciert, damit du perfekt drauf sitzst. Die Schuhe – ein Thema für sich (das zeigte die mich trotz allem sehr beeindruckende Leistung des Sub-2h-Marathonprojekts von Nikes ). Alles toll, um nicht zu sagen: unglaublich.

Aber nix für mich.


Ohne Uhr geht alles.

Zuerst entschlackte ich mein Velo und demontierte den Radcomputer auf dem Lenker. Die Pulsuhr wollte ich noch nicht aufgeben, mein Glück war, dass sie von selbst aufgab. Fortan auch keine Herzfrequenzmessung mehr. Die Suche nach einer einfachen Sportuhr mit einer simplen Stop-and-Go-Funktion blieb aussichtslos, weshalb ich’s bleiben liess. Ich trage heute nichts mehr am Handgelenk und sehe auf dem Rad nicht, wie weit ich gerade bin. Das Smartphone habe ich dabei, hinten im Rucksack, für Fotos. Und ja, die Strecke zeichne ich – wenn auch selten – auf. Ab und zu muss ich eine Karte sichten, damit ich nicht allzu weit vom Weg abkomme. Für die Vorbereitung von Rollskitouren konsultiere ich Karten (vorzugsweise swissmaps.ch) und fahre viel Velo. Verfahre mich regelmässig, finde dabei aber auch immer überraschende neue Wege. Der Sport macht grösstenteils wieder Spass und ich habe, da ich keine Trainingsdaten mehr aufzeichne, deutlich mehr Zeit für anderes.

Wir leben in einer Gesellschaft, vor allem in der Schweiz, wo dauernd auf die Uhr geschaut wird. Wirklich dauernd. Zug eine Minute später: Blick auf die Uhr; Arbeit: Pünktlichkeit ist alles; Date: naja, da haben wir vielleicht ein wenig mehr Geduld. Das Leben ist ein Wettkampf um Sekunden. Auch ich bewege mich in diesem gesellschaftlich sanktionierten Zeitrahmen. Umso weniger brauche ich das in meiner Freizeit. Aber eben: ich habe zwei Jahrzehnte gebraucht, um das für mich zu ändern. Wenn mich heute jemand fragt, wie weit ich gefahren bin, habe ich meistens keine Ahnung, auch nicht von der dafür benötigten Zeit.

Auch das Rollskifahren ist für mich nicht mehr Training für den Winter. Zum einen ist es eher umgekehrt, zum anderen ist es eine den ganzen Körper beanspruchenden verlangsamte Form der Fortbewegung an der frischen Luft. Schön, wenn dann die Tour auch noch passt.

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