Wie trainiert die erfolgreichste Langläuferin aller Zeiten. 15 Medaillen bei fünf Olympiateilnahmen, davon acht mal Gold. 26 Medaillen an Weltmeisterschaften, hier gar 18 mal Gold. 113 Weltcupsiege, davon 84 im Einzel. Sowohl im Sprint als auch über Langdistanzen bis 30 km erfolgreich. Zuletzt in Pyeongchang, mit 37 Jahren – zwei Monate später trat sie zurück. Marit Bjørgens Rekorde werden schwer zu toppen sein. Umso mehr interessiert es, wie so jemand trainiert. Was macht sie anders? Macht sie überhaupt etwas anders?
Soviel sei vorab verraten: sie ist ein Mensch. Sie kocht nur mit Wasser – aber vielleicht kocht das Wasser besonders gut. Oder früher als alle anderen Wasser. Oder so. Das zeigt der vorliegende Artikel von Solli, Tønnesen und Sandbakk (2017) , hier knapp übersetzt und zusammengefasst.
Das Training ganz grob
Nach zwölf Jahren eines nicht-linearen Aufbau mit steigendem Trainingsaufwand pendelt sich das jährliche Training der fünf erfolgreichsten Jahre von Marit Bjørgen bei ± 937 h ein, verteilt auf ± 543 Trainingseinheiten. Das Training verteilte sich auf die Sportarten Radfahren, Laufen sowie Rollski und Langlauf. 90.6% betraf Ausdauer-, 8.0% Kraft- und 1.4% Speedeinheiten. Die Ausdauereinheiten verteilten sich auf rund 92% LIT (low intensity training), 3% MIT (moderate intensity) und 5% HIT (high intensity). LIT-Zeit wurde aufgeteilt in 21% Warm-up, 14% Einheiten kürzer als 90 min, 65% länger als 90 min. Marit Bjørgen setzte bei 18-25 % ihres jährlichen Trainingsaufwands auf Höhentraining, in Trainingscamps, die längstens 16 Tage dauerten und verhältnismässig viel weniger HIT-Training beinhalteten.
Die Besonderheit von Langlaufrennen
Das Training von Langläufern verlangt nach spezifischen Trainingsformen, da die Weltcup-Wettkämpfe sowohl 3-min-Sprints als auch 2-h-Rennen enthalten. Die Wettkämpfe finden auf sehr variablem Gelände statt, mit extrem steilen Aufstiegen und rasanten Abfahrten, in unterschiedlichen Techniken (Skating und Klassisch). Obwohl die durchschnittliche aerobe Energieversorgung in Sprints rund 70-75% und 80-85% auf längeren Distanzen ausmacht, ist das Rennformat grundsätzlich intervall-basiert, da in den Aufstiegen die maximale Intensität mindestens gestreift und in Abfahrten nur kurze Erholungszeiten gewährt werden (dafür hervorragende koordinativen Fähigkeiten gefordert sind). Da zudem die meisten Wettkämpfe heute mit einem Massenstart losgehen, wird die Sprint-Fähigkeit schon zu Beginn eingefordert.
Das Individuum Marit Bjørgen
Die Athletin wurde über fünf Jahre regelmässig physiologisch getestet, es wurde ein Laktat-Profil erstellt, Gewicht, Körperfett (aufgeteilt in Körperregionen), VO2max gemessen, die anaerobe Sauerstoffschuld (respektive die Geschwindigkeit dabei) auf dem Laufband laufend überprüft. Die Athletin selbst protokollierte ausnahmslos jedes Training ausführlich. Grundsätzlich ist das nicht ungewöhnlich, sondern im Ausdauersport üblich. Der Puls der Athletin bewegte sich im LIT zwischen 115 (67%) und 149 (86%), im MIT von 150 (87%) – 160 (92%), im HIT von 161 (93%) bis zum Maximalpuls von 173 (100%). Das sind individuelle Werte, daraus lässt sich so gut wie nichts ableiten. Wohingegen die Prozentwerte schon mehr hergeben, zumindest eine Ahnung, wie man, ausgehend vom Maximalpuls, sein Training einteilen kann.
Die Messung begann 2000 und endete 2015. In dieser Zeit steigerte sich der Trainingsaufwand um rund 80% von 522 h im Jahr 2000 auf 940 h 2015, was einer Steigerung des durchschnittlichen Wochenaufwands von 10 auf 18 h entspricht.
Das Training nicht mehr ganz so grob
In der Vorbereitungsphase von Mai bis Oktober (general preparation period) umfasste der monatliche Trainingsaufwand rund 76 h, ging in der spezifischen Vorbereitung (specific preparation period) im November und Dezember zurück auf rund 68 h und wurde während der Wettkampfphase (competition period) von Januar bis März nochmals auf rund 55 h reduziert. Die Anteile der Intensitätsformen verschoben sich dabei leicht. LIT nahm im Jahresverlauf von anfangs 94% (GP) auf 91% (CP) ab. Auch MIT hatte in der Vorbereitungsphase einen grösseren Anteil (± 5%) als im Wettkampfmodus, wohingegen HIT insbesondere während der Wettkampfphase eine grosse Rolle spielte (bis zu 7% – was aber mit den vielen Wettkämpfen zu erklären ist).
Immer mehr Gewicht bekommt sowohl im Profibereich als auch im Hochleistungsbereich beim Breitensport das Krafttraining – sei es mit Gewichten (Hanteln, Eigengewicht), sei es beim Training selbst. Marit Bjørgen hatte Einheiten, bei denen sie morgens ihren Oberkörper mit Gewichten knechtete, um sich bei der zweiten TE nachmittags nur auf die unteren Extremitäten zu konzentrieren – was im Langlauf/Rollski gar nicht mal so einfach ist.
In zwölf aufeinander folgenden Jahren veränderte die Athletin ihre Trainingsphilosophie zwei Mal grundlegend. Der erste Wechsel beinhaltete die Zuwendung zu extensiven HIT-Blöcken, was in der Folge zu stark verbesserten Trainings- und Wettkampfleistungen, aber nach einigen Jahren in die Leistungs-Stagnation führte – dadurch erklärt, dass HIT-Training nicht ohne Ende ausbaufähig ist. Folgerichtig wurde eine starke Abnahme von HIT-Training durchgesetzt, die Verteilung von Trainingsumfängen und -intensitäten ausgeglichen, der Anteil an LIT-Training nahm deutlich zu. Was in der Folge zu den fünf erfolgreichsten Jahren der Athletin führte.
Mein Senf zum Artikel
Die Autoren stellen abschliessend die grosse Bedeutung von hohen Trainingsumfängen unter Anwendung verschiedener Trainingsmodi HIT, MIT und insbesondere LIT fest – was so die Voraussetzung sei für die Weltspitze. Das ist eine sehr verkürzte Konklusion, die zudem nur teilweise stimmt. Grundsätzlich ist es richtig, dass einseitiges und zu viel hochintensives Training den Körper in einer Ausdauersportart wie Langlauf vermutlich recht schnell zerstören würde. Aber die hohen LIT-Anteile reichen sicher nicht, um die unglaubliche Endgeschwindigkeit und auch Sprintfähigkeit von Marit Bjørgen zu erklären. Wie angedeutet ziehen die Autoren viele Faktoren herbei, die zur Weltspitze führen (vielseitiges Training, Periodisierung, technische Übungen, undsoweiter). Das ist alles nichts Neues, das wird in Ausdauersportarten seit langer Zeit vorgeschlagen. So oder ähnlich werden auch andere Grössen wie Therese Johaug oder Martin Johnsrud Sundby (mehr oder weniger) trainieren – beide nicht bekannt für ihre Sprintfähigkeit.
Wer ein Leben lang auf diese Weise trainiert, kommt kaum an die Spitze. Es ist daher zu vermuten (und indirekt wird es auch bestätigt im Artikel), dass Marit Bjørgen und die anderen aufgezählten Legenden in ihren Jugendjahren und auch zu Beginn der Profikarriere viel häufiger hochintensiv trainiert und dadurch ihre anaerobe Leistungsfähigkeit entscheidend aufgebaut haben. Zur Erinnerung: ein Grossteil der anaeroben Fähigkeiten wird während der Jugend antrainiert. Denken wir nur an Johan Hoesflot Klaebo, der seine Weltcup-Karriere als 20-jähriger auf der Sprintdistanz lanciert hat. Grundschnelligkeit muss trainiert werden, ob man will oder nicht. Sowohl beim Sprint, wo die Tempi sehr hoch sind, als auch auf längeren Distanzen. Das ist in jeder Sportart ähnlich. Ausdauer kommt mit den Jahren dazu, kann fast jederzeit entwickelt werden – wohingegen die anaerobe Leistungsfähigkeit mit den Jahren abnimmt. Es ist nicht genau bekannt, wann sie am höchsten ist (das ist vermutlich individuell unterschiedlich), aber wer erst mit 24 Jahren mit Intervalltraining beginnt, hat viel mehr Mühe als jemand, der früher anfängt.
Eine weitere Fähigkeit ist es natürlich, diese Fertigkeit längstmöglich zu erhalten. Das Marit Bjørgen eindrücklich bewiesen. Wo der Artikel leider nicht nachhakt. Was braucht es, damit jemand auch mit deutlich weniger Speedtraining schnell bleibt oder eben nicht langsamer wird. Zum Beispiel: braucht es eine bestimmte Muskelstruktur? Es wäre interessant gewesen, mehr zu erfahren über diesen Indikator. Dafür sind ja Einzelfallstudien da: dass man alle möglichen Indikatoren erfasst.
Insofern ist der Artikel zwar interessant, immerhin geht es um die grösste Langläuferin aller Zeiten. Aber für jemanden mit ein wenig Trainingswissen ist er nicht sehr aufschlussreich. Nichts Neues im Norden.
Die Signale für den Breitensport
Als Breitensportler kann man daraus aber trotzdem einiges ableiten. Es ist nämlich eindeutig gesünder, weniger hochintensive Einheiten ins Training einzubauen. Bei hochintensivem Training nimmt Regenerationstraining einen viel grösseren Raum ein – etwas, was beim Breitensport wegen der in der Regel zusätzlichen anfallenden Arbeitstätigkeit schwierig ist. Übertraining naht in Riesenschritten, die Verletzungsanfälligkeit nimmt automatisch zu, das Training macht keinen Spass mehr. Daher ist es nicht falsch, bei der Verteilung der verschiedenen Trainingsmodi (LIT, MIT, HIT) ähnlich zu verfahren. Mit anderen Worten: Lieber ein HIT weniger, dann bleibt der Sport der Hit.
Quelle:
Solli, G. S., Tønnessen, E., Sandbakk, O. (2017). The Training Characteristics of the World’s Most Successful Female Cross-Country Skier. Frontiers in Physiology, Vol. 8, Nr. 1069, p. 1–14.
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