Wie bereitet man sich mental auf Extremdistanzen vor? Auf den Nordenskiöldsloppet zum Beispiel. Ein Rennen im Norden Schwedens über 220 Kilometer. Das ist zweieinhalb Mal der Vasalauf. Nüme nüt.
Ich lerne Florian Wohlwend durch Instagram kennen. Dort postet sein Langlaufclub Zürich Doppelstock die Meldung: „Wir haben da ein rollskilaufendes Clubmitglied, das uns immer mal wieder ein wenig sprachlos macht“. 115.8 Kilometer hat er mit den Rollski gerade hinter sich gebracht und via Strava dokumentiert. Sein Weg führte ihn von Uster über Winterthur und Frauenfeld nach Romanshorn. Das machte auch mich sprachlos. Ich nahm via Club Kontakt mit ihm auf, denn seien wir ehrlich: wenn jemand etwas über Mentaltraining oder mentale Vorbereitung erzählen kann, dann er, der über 7 Stunden auf den Rollski stand und dabei auch noch ein gehöriges Tempo vorlegte.
Die Überschrift des Post war betitelt mit „Dreaming of Nordenskiöldsloppet“. Das derzeit längste Langlaufrennen der Welt im Norden Schwedens – ein Rennen für Menschen mit Nehmerqualitäten. Um das einordnen zu können: der Sieger brauchte dafür im vergangenen Jahr 11 Stunden 49 Minuten, ein Jahr davor 13 Stunden 25 Minuten. In den letzten drei Jahren siegte übrigens Andreas Nygaard, der in der vergangenen Saison auch die Visma Ski Classics Serie für sich entscheiden konnte. Angemeldet haben sich 2019 immerhin 540 Unentwegte, ins Ziel kamen 335 Starter – eine Ausfallquote von rund 40%. Die letzten und in meinen Augen allerhärtesten Helden standen über 28 Stunden auf den schmalen Brettern, die die Welt bedeuten.
Florian Wohlwend bereitet sich für genau diesen Ultralauf vor. Ein idealer Gesprächspartner, denke ich, denn so eine Distanz lässt sich gar nicht anders vorbereiten als mental. Und natürlich auf Rollski im Sommer.
Ich leitete das ganze ein mit der ernst gemeinten Bemerkung, dass die 115 Kilometer auf den Rollski für mich eine unglaubliche Leistung darstellen. Er sah das ein wenig anders – womit er mir gleich zu Beginn viel Wind aus dem Segel nahm. Wobei: der einzige, der hier Wind machte, war ich. Wohlwend selbst wirkt ruhig, entspannt und voller Vorfreude für das Rennen. Er ist übrigens nicht der einzige seines Clubs, der nach Jokkmokk reist. Ganze vier Mitglieder von Zürich Doppelstock stellen sich der Aufgabe.
Als ich den Post auf Instagram gesehen habe, fand ich das von der mentalen Leistung her absolut bewundernswert, und Du sagst dazu, das sei für Dich keine mentale Leistung, sondern einfach eine Vorbereitung. Wie hast Du das gemeint? Wieso war das für Dich keine Leistung?
FW: Also Leistung schon. Ich habe die Strecke bereits abschnittweise gekannt, es ist eine offizielle, beschilderte Inline-Strecke. Vor ein paar Jahren machte ich sie mal bis Winterthur, später dann die 60 km bis Frauenfeld, und in diesem Jahr hatten wir geplant, das Vereinsfest in Romanshorn zu machen, und dann ist die Idee gewachsen, die Strecke mal durchzulaufen. Jetzt war’s mal im Kopf. Dann kam das mit dem Nordenskiölsloppet, die 220 km. Das ist eine Distanz, die ich noch nicht einordnen kann.
Was heisst: einordnen?
Nehmen wir den Vasalauf – den kenne ich schon. 220 km entsprechen zweimal dem Vasalauf und einem Marathon hintendran. Ähnlich teilte ich die 115 km ein: 90 km beträgt die Distanz beim Vasalauf, kommen noch 25 dazu. Das wollte ich einfach einmal gemacht haben. 115 km, das ist schon mehr als die Hälfte des Nordenskiöldloppet. Im Kopf ging das so: nach 40 km war’s der Engadiner, nach 54 der Birkebeiner, nach 65 die Diagonela, nach 90 der Vasa. Nun weiss ich: 115 km habe ich schon einmal gemacht.
Was für ein Profil hat die Strecke des Nordenskiöldsloppet?
FW: Sie ist eher flach. 1600 Höhenmeter – das ist auf diese riesige Distanz nicht viel.
Was ja auch eine mentale Herausforderung sein kann: alles nur flach und geradeaus.
FW: Ja mega, und dann noch in der Nacht. Gestartet wird morgens um 6 Uhr und ins Ziel kommt man nach Mitternacht. Ein Gutteil wird also nachts gelaufen. Das stelle ich mir tatsächlich als sehr grosse mentale Herausforderung vor.
Bereitest Du das mit spezifischem Mentaltraining vor?
FW: Nicht gross. Ich „arbeite“ vor allem körperlich, über gutes Training. Natürlich spielt auch die Erfahrung mit. Ich musste noch nie ein Rennen aufgeben. Ich kann mich recht gut einschätzen, auch wenn ich die Distanz selbst nicht so gut einschätzen kann und auch nicht weiss, welches Tempo ich laufen kann, um durchzukommen. 220 km, das wird sicher ein Abenteuer.
Hast Du zum Beispiel so etwas wie ein Krisenmanagement oder ein Krisen-Antizipations-Programm: wenn das und das passiert, dann .... Oder läufst Du Krisen einfach tot? Wie war das bei Deinem 115er?
FW: Krisen, so wie ich das Wort verstehe, hatte ich in diesem Lauf keine. Ich kam zum Beispiel nicht in Versuchung, abzubrechen. Da ich der offiziellen Inline-Strecke gefolgt bin, welche etwa alle 20km einen grösseren Bahnhof ansteuert, hätte ich mich natürlich einfach in den Zug setzen können. Natürlich gab es Phasen, wo die Arme schwerer wurden, die Kadenz nachliess oder ganz allgemein der Flow etwas verloren ging. Letzteres kann schon passieren, wenn der Belag ruppiger wird oder du wegen einer Richtungsänderung plötzlich im Gegenwind stehst. In solchen Situationen hilft mir die Erfahrung aus diversen Langdistanzrennen und -trainings. Ich vertraue da blind darauf, dass diese Phase vorbei geht und sich der Flow wieder einstellt. Ich wurde bisher noch nie enttäuscht. Das ist auch die Antwort auf die Frage "Wenn Krisen, wie weiter“. Wenn ich über fünf Stunden unterwegs bin, habe ich mindestens ein paar Mini-Krisen. Die gehören dazu, sie kommen und gehen. Das ist für mich ein selbstverständlicher Teil des Abenteuers und bringt mich nicht aus dem Konzept. In deinen Worten laufe ich die Krisen somit tot. Einen veritablen Einbruch hatte ich noch nie. Was ich regelmässig mache: ich teile die Distanz in Abschnitte ein, die ich kenne. Beim Vasalauf waren es 25 km Einlaufen plus Diagonela. Damit mache ich die Distanz für mich fassbar. Oder 20 km vor dem Ziel: jetzt kommt noch einmal rund um den Greifensee – was ich schon unzählige Male gemacht habe.
Florian Wohlwend scheint sich vor allem über das (körperliche) Training mental zu stärken. Er setzt sich nicht abends hin und meditiert oder macht autogenes Training. Ein deutlicher Hinweis auf eine mentale Verarbeitungsweise ist aber seine Unterteilung eines Laufes in Abschnitte. Nach 40 km Engadiner, nach 54 km Birkebeiner, undsoweiter. Das scheint zu funktionieren. Immer? Nehmen wir mich und die Diagonela: 65 km, 560 hm, die ersten 25 km mehr oder weniger flach, dann im mittleren Abschnitt mit teilweise sehr steilen Anstiegen gespickt: quasi senkrecht hoch zum Stazer See, nach einer kurzen Flachphase senkrecht runter zum St. Moritzer See. Anschliessend folgt ein ständiges Auf und Ab, bis man wieder unten in der Fläche ist. Irgendwann führt der Kopf ein vom Körper unabhängiges Eigenleben. Die Kilometer werden länger und länger (was de facto Blödsinn ist), und ja: man rettet sich über die Abschnitte. Nach 40 km geht es mir allerdings ganz anders. Ich denke: mein Gott, der Engadiner ist ja Pipifax gegen die Diagonela, und ich habe immer noch 25 km vor mir. Darunter den Ausflug ins Val Roseg und die Golan-Höhen. Das wurde mir alles viel zuviel. Kamen noch extreme Fussschmerzen (Hallux rigidus in der Fachsprache) dazu, und noch vor Zuoz das Wachs runtergelaufen. Jetzt erst wird ein Lauf zur mentalen Herausforderung. Man erkennt das an meinen negativen Formulierungen. Ich habe nicht gesagt: wow, schon 40 km, sondern: mein Gott, erst der Engadiner. Das macht die Aussage von Florian so wertvoll. Er besetzt positiv. Das ist auch das, was Novak Djokovic so gut kann. Negativströmungen positiv besetzen.
Was braucht es in Deinen Augen, um einen Vasalauf erfolgreich zu bestreiten?
FW: Dafür braucht es schon ein wenig Vorbereitung – den Engadiner kann man zum Beispiel auch mit wenig Training und Können bestreiten. Anders beim Vasa. Hier sollte man schon eine Ahnung haben vom Langlaufen. Aber wir hatten vor einem Jahr auch Clubmitglieder dabei, die weit weniger ambitioniert waren und über zehn Stunden unterwegs waren. Das ist eine Riesenleistung. Wenn du statt fünf Stunden zehn elf Stunden unterwegs bist, in den Wäldern, im Gegenwind, mehr oder weniger alleine, im Dunkeln – das finde ich die viel grössere Leistung.
Was sagt man hier einem Anfänger?
FW: Am Vasalauf wird es so sein: je weiter hinten, desto mehr ist man vermutlich gezwungen, es etwas gemütlicher zu nehmen.
Florian spricht damit etwas an, was auch ich bewundere. Die vielen Breitensportler, die nicht den ganzen Tag trainieren und regenerieren können und trotzdem grosse Leistungen vollbringen. 12 bis 16 Stunden bei einem Ironman - das ist eine herausragende Leistung, die sehr viel mentale Stärke abverlangt. In meinen Augen verdienen Breitensportler viel mehr Bewunderung als jeder Profi und sollten dafür eigentlich unterstützt werden.
Um noch einmal auf den Nordenskiölsloppet zurück zu kommen: braucht es dafür bestimmte Eigenschaften?
FW: Frag’ mich in einem halben Jahr nochmals (lacht). Ich glaube, man muss schon ein bisschen ein Spinner sein. Bis vor Kurzem sagte ich mir selbst: nei, gschpunne, unmöglich, machsch nit. Dann hat unser Schwede (der letztes Jahr bereits teilgenommen hat) im Club-Chat gesagt, er gehe wieder, worauf ein Kollege meinte: ja, dänn chumm i au. Dann ich: die gönd, ja, denn chumm i au. Schliesslich hat sich noch ein weiterer Kollege angeschlossen. Zwei Stunden später war bereits das Hotel gebucht.
Also klassische Gruppendynamik?
FW: Genau. Gruppendruck, Gruppendynamik. Ob ich alleine dort hoch fliegen würde, wo ich niemanden kenne, das Rennen mache, wieder zurück – bin ich nicht sicher. Das hat sicher viel mit dem Verein zu tun.
Was ist ein Spinner?
FW: ja eben, den Nordenskiölsloppet machen, das ist eine Spinn-Idee. Die halbe Weltkugel hochfliegen für ein Rennen. 220km - das kann fast nicht gesund sein, und wird sicher „u huere härt“.
Was sind für Dich herausragende mentale Leistungen? Mir fällt zum Beispiel gerade Curdin Perl ein, mit Langlaufski auf den Piz Palü.
FW: Genau, gschpunne. Der Hawaii-Triathlon, den stelle ich mir ... gut, ich bin ein miserabler Schwimmer ... den finde ich krass. Obwohl, im 220er bin ich dann sogar länger unterwegs. Aber nur schon in drei Disziplinen stark sein, das beeindruckt mich. Allein die Vorstellung, dass du im Schwimmen eine Krise hast, und dann kommen noch zwei weitere Disziplinen. Ich merke gerade, mir kommen dabei vor allem Sportarten in den Sinn, die mir fremd sind. Langlaufen ist für mich fassbarer, ich bin auch überzeugt, dass ich den 220er schaffen werde.
Woher hast Du dieses Selbstvertrauen?
FW: Wahrscheinlich schon auch aus dem 115er, den ich gemacht habe. Dass ich den, ohne an die Grenzen zu kommen, in einer guten Pace durchgestossen habe. Damit habe ich schon mehr als die Hälfte (des Nordenskiöldsloppet) absolviert. Dazu kam: ich war die ganze Strecke über alleine unterwegs – ganz im Gegensatz zum Wettkampf, wo man häufig in einer Gruppe unterwegs ist – was wesentlich angenehmer sein kann. Ich wusste also: der 220er ist machbar. Deshalb meinte ich: der 115er ist mentale Vorbereitung. Das Wissen zu haben: ich kann weit über 100 machen, ohne völlig kaputt zu sein.
Es wäre jetzt auch möglich, einen schwarzen Tag zu kassieren. Bereitest Du das vor, denkst Du darüber nach?
FW: Ich habe das noch nie erlebt.
Noch nie schwere Beine gehabt am Anfang?
FW: Schon, aber das zeigt mir die Erfahrung zum Beispiel aus zwei Vasaläufen und anderen langen Rennen: Krisen hat man, aber wenn du sie ignorierst, gehen sie auch wieder vorbei. Das hatte ich noch in jedem Rennen mal, so im Stil von: erst dreissig Kilometer und schon müde Arme. Zehn Kilometer weiter habe ich dann gemerkt: die Arme sind überhaupt kein Problem mehr. Solche Phasen muss man einfach überwinden, sich durchbeissen. Eigentlich bin ich am Kämpfen, sollte aber noch nicht am Kämpfen sein – das vergeht. So etwas hatte ich in jedem langen Rennen. Bei den ersten zwei Rennen habe ich dann jeweils Tempo rausgenommen, später aber gedacht, nein, eigentlich kannst du das Tempo auch durchziehen.
Hast Du auch Hochgefühle?
FW: Hochgefühle? Das ist der Hauptgrund, dass ich solche Sachen mache. Bei Langdistanzrennen überkommen mich die Emotionen regelmässig auf den letzten Kilometern. Sobald der Gedanke aufkommt "Jetzt habe ich es geschafft", rasen mir Ameisen durch den ganzen Körper und das eine oder andere Tränchen sammelt sich in den Augen. Was dann in absoluten Glücksgefühlen im Ziel kumuliert. Im etwas kleineren Rahmen habe ich das auch, wenn ich im Training meine persönliche Grenze verschiebe. In diesem Fall war mein alter Distanzrekord auf Rollskis ca. 90km. Auf den letzten Kilometern des 115ers waren die Emotionen vergleichbar. Vasaloppet-Light quasi.
Florian, vielen Dank für das Gespräch.