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Wie bereitet man sich mental auf Extremdistanzen vor? Auf den Nordenskiöldsloppet zum Beispiel. Ein Rennen im Norden Schwedens über 220 Kilometer. Das ist zweieinhalb Mal der Vasalauf. Nüme nüt.

Ich lerne Florian Wohlwend durch Instagram kennen. Dort postet sein Langlaufclub Zürich Doppelstock die Meldung: „Wir haben da ein rollskilaufendes Clubmitglied, das uns immer mal wieder ein wenig sprachlos macht“. 115.8 Kilometer hat er mit den Rollski gerade hinter sich gebracht und via Strava dokumentiert. Sein Weg führte ihn von Uster über Winterthur und Frauenfeld nach Romanshorn. Das machte auch mich sprachlos. Ich nahm via Club Kontakt mit ihm auf, denn seien wir ehrlich: wenn jemand etwas über Mentaltraining oder mentale Vorbereitung erzählen kann, dann er, der über 7 Stunden auf den Rollski stand und dabei auch noch ein gehöriges Tempo vorlegte.

Florian Wohlwend am Ziel der Sommer-Diagonela auf dem Albula.

Die Überschrift des Post war betitelt mit „Dreaming of Nordenskiöldsloppet“. Das derzeit längste Langlaufrennen der Welt im Norden Schwedens – ein Rennen für Menschen mit Nehmerqualitäten. Um das einordnen zu können: der Sieger brauchte dafür im vergangenen Jahr 11 Stunden 49 Minuten, ein Jahr davor 13 Stunden 25 Minuten. In den letzten drei Jahren siegte übrigens Andreas Nygaard, der in der vergangenen Saison auch die Visma Ski Classics Serie für sich entscheiden konnte. Angemeldet haben sich 2019 immerhin 540 Unentwegte, ins Ziel kamen 335 Starter – eine Ausfallquote von rund 40%. Die letzten und in meinen Augen allerhärtesten Helden standen über 28 Stunden auf den schmalen Brettern, die die Welt bedeuten.

Florian Wohlwend bereitet sich für genau diesen Ultralauf vor. Ein idealer Gesprächspartner, denke ich, denn so eine Distanz lässt sich gar nicht anders vorbereiten als mental. Und natürlich auf Rollski im Sommer.

Ich leitete das ganze ein mit der ernst gemeinten Bemerkung, dass die 115 Kilometer auf den Rollski für mich eine unglaubliche Leistung darstellen. Er sah das ein wenig anders – womit er mir gleich zu Beginn viel Wind aus dem Segel nahm. Wobei: der einzige, der hier Wind machte, war ich. Wohlwend selbst wirkt ruhig, entspannt und voller Vorfreude für das Rennen. Er ist übrigens nicht der einzige seines Clubs, der nach Jokkmokk reist. Ganze vier Mitglieder von Zürich Doppelstock stellen sich der Aufgabe.


Als ich den Post auf Instagram gesehen habe, fand ich das von der mentalen Leistung her absolut bewundernswert, und Du sagst dazu, das sei für Dich keine mentale Leistung, sondern einfach eine Vorbereitung. Wie hast Du das gemeint? Wieso war das für Dich keine Leistung?

FW: Also Leistung schon. Ich habe die Strecke bereits abschnittweise gekannt, es ist eine offizielle, beschilderte Inline-Strecke. Vor ein paar Jahren machte ich sie mal bis Winterthur, später dann die 60 km bis Frauenfeld, und in diesem Jahr hatten wir geplant, das Vereinsfest in Romanshorn zu machen, und dann ist die Idee gewachsen, die Strecke mal durchzulaufen. Jetzt war’s mal im Kopf. Dann kam das mit dem Nordenskiölsloppet, die 220 km. Das ist eine Distanz, die ich noch nicht einordnen kann.

Was heisst: einordnen?

Nehmen wir den Vasalauf – den kenne ich schon. 220 km entsprechen zweimal dem Vasalauf und einem Marathon hintendran. Ähnlich teilte ich die 115 km ein: 90 km beträgt die Distanz beim Vasalauf, kommen noch 25 dazu. Das wollte ich einfach einmal gemacht haben. 115 km, das ist schon mehr als die Hälfte des Nordenskiöldloppet. Im Kopf ging das so: nach 40 km war’s der Engadiner, nach 54 der Birkebeiner, nach 65 die Diagonela, nach 90 der Vasa. Nun weiss ich: 115 km habe ich schon einmal gemacht.

Was für ein Profil hat die Strecke des Nordenskiöldsloppet?

FW: Sie ist eher flach. 1600 Höhenmeter – das ist auf diese riesige Distanz nicht viel.

Was ja auch eine mentale Herausforderung sein kann: alles nur flach und geradeaus.

FW: Ja mega, und dann noch in der Nacht. Gestartet wird morgens um 6 Uhr und ins Ziel kommt man nach Mitternacht. Ein Gutteil wird also nachts gelaufen. Das stelle ich mir tatsächlich als sehr grosse mentale Herausforderung vor.

Bereitest Du das mit spezifischem Mentaltraining vor?

FW: Nicht gross. Ich „arbeite“ vor allem körperlich, über gutes Training. Natürlich spielt auch die Erfahrung mit. Ich musste noch nie ein Rennen aufgeben. Ich kann mich recht gut einschätzen, auch wenn ich die Distanz selbst nicht so gut einschätzen kann und auch nicht weiss, welches Tempo ich laufen kann, um durchzukommen. 220 km, das wird sicher ein Abenteuer.

Der Wendepunkt – jetzt sind's nur noch 110 km. Heimlaufen einfach!

Hast Du zum Beispiel so etwas wie ein Krisenmanagement oder ein Krisen-Antizipations-Programm: wenn das und das passiert, dann .... Oder läufst Du Krisen einfach tot? Wie war das bei Deinem 115er?

FW: Krisen, so wie ich das Wort verstehe, hatte ich in diesem Lauf keine. Ich kam zum Beispiel nicht in Versuchung, abzubrechen. Da ich der offiziellen Inline-Strecke gefolgt bin, welche etwa alle 20km einen grösseren Bahnhof ansteuert, hätte ich mich natürlich einfach in den Zug setzen können. Natürlich gab es Phasen, wo die Arme schwerer wurden, die Kadenz nachliess oder ganz allgemein der Flow etwas verloren ging. Letzteres kann schon passieren, wenn der Belag ruppiger wird oder du wegen einer Richtungsänderung plötzlich im Gegenwind stehst. In solchen Situationen hilft mir die Erfahrung aus diversen Langdistanzrennen und -trainings. Ich vertraue da blind darauf, dass diese Phase vorbei geht und sich der Flow wieder einstellt. Ich wurde bisher noch nie enttäuscht. Das ist auch die Antwort auf die Frage "Wenn Krisen, wie weiter“. Wenn ich über fünf Stunden unterwegs bin, habe ich mindestens ein paar Mini-Krisen. Die gehören dazu, sie kommen und gehen. Das ist für mich ein selbstverständlicher Teil des Abenteuers und bringt mich nicht aus dem Konzept. In deinen Worten laufe ich die Krisen somit tot. Einen veritablen Einbruch hatte ich noch nie. Was ich regelmässig mache: ich teile die Distanz in Abschnitte ein, die ich kenne. Beim Vasalauf waren es 25 km Einlaufen plus Diagonela. Damit mache ich die Distanz für mich fassbar. Oder 20 km vor dem Ziel: jetzt kommt noch einmal rund um den Greifensee – was ich schon unzählige Male gemacht habe.


Florian Wohlwend scheint sich vor allem über das (körperliche) Training mental zu stärken. Er setzt sich nicht abends hin und meditiert oder macht autogenes Training. Ein deutlicher Hinweis auf eine mentale Verarbeitungsweise ist aber seine Unterteilung eines Laufes in Abschnitte. Nach 40 km Engadiner, nach 54 km Birkebeiner, undsoweiter. Das scheint zu funktionieren. Immer? Nehmen wir mich und die Diagonela: 65 km, 560 hm, die ersten 25 km mehr oder weniger flach, dann im mittleren Abschnitt mit teilweise sehr steilen Anstiegen gespickt: quasi senkrecht hoch zum Stazer See, nach einer kurzen Flachphase senkrecht runter zum St. Moritzer See. Anschliessend folgt ein ständiges Auf und Ab, bis man wieder unten in der Fläche ist. Irgendwann führt der Kopf ein vom Körper unabhängiges Eigenleben. Die Kilometer werden länger und länger (was de facto Blödsinn ist), und ja: man rettet sich über die Abschnitte. Nach 40 km geht es mir allerdings ganz anders. Ich denke: mein Gott, der Engadiner ist ja Pipifax gegen die Diagonela, und ich habe immer noch 25 km vor mir. Darunter den Ausflug ins Val Roseg und die Golan-Höhen. Das wurde mir alles viel zuviel. Kamen noch extreme Fussschmerzen (Hallux rigidus in der Fachsprache) dazu, und noch vor Zuoz das Wachs runtergelaufen. Jetzt erst wird ein Lauf zur mentalen Herausforderung. Man erkennt das an meinen negativen Formulierungen. Ich habe nicht gesagt: wow, schon 40 km, sondern: mein Gott, erst der Engadiner. Das macht die Aussage von Florian so wertvoll. Er besetzt positiv. Das ist auch das, was Novak Djokovic so gut kann. Negativströmungen positiv besetzen.


Was braucht es in Deinen Augen, um einen Vasalauf erfolgreich zu bestreiten?

FW: Dafür braucht es schon ein wenig Vorbereitung – den Engadiner kann man zum Beispiel auch mit wenig Training und Können bestreiten. Anders beim Vasa. Hier sollte man schon eine Ahnung haben vom Langlaufen. Aber wir hatten vor einem Jahr auch Clubmitglieder dabei, die weit weniger ambitioniert waren und über zehn Stunden unterwegs waren. Das ist eine Riesenleistung. Wenn du statt fünf Stunden zehn elf Stunden unterwegs bist, in den Wäldern, im Gegenwind, mehr oder weniger alleine, im Dunkeln – das finde ich die viel grössere Leistung.

Was sagt man hier einem Anfänger?

FW: Am Vasalauf wird es so sein: je weiter hinten, desto mehr ist man vermutlich gezwungen, es etwas gemütlicher zu nehmen.

Florian spricht damit etwas an, was auch ich bewundere. Die vielen Breitensportler, die nicht den ganzen Tag trainieren und regenerieren können und trotzdem grosse Leistungen vollbringen. 12 bis 16 Stunden bei einem Ironman - das ist eine herausragende Leistung, die sehr viel mentale Stärke abverlangt. In meinen Augen verdienen Breitensportler viel mehr Bewunderung als jeder Profi und sollten dafür eigentlich unterstützt werden.

Um noch einmal auf den Nordenskiölsloppet zurück zu kommen: braucht es dafür bestimmte Eigenschaften?

FW: Frag’ mich in einem halben Jahr nochmals (lacht). Ich glaube, man muss schon ein bisschen ein Spinner sein. Bis vor Kurzem sagte ich mir selbst: nei, gschpunne, unmöglich, machsch nit. Dann hat unser Schwede (der letztes Jahr bereits teilgenommen hat) im Club-Chat gesagt, er gehe wieder, worauf ein Kollege meinte: ja, dänn chumm i au. Dann ich: die gönd, ja, denn chumm i au. Schliesslich hat sich noch ein weiterer Kollege angeschlossen. Zwei Stunden später war bereits das Hotel gebucht.

Also klassische Gruppendynamik?

FW: Genau. Gruppendruck, Gruppendynamik. Ob ich alleine dort hoch fliegen würde, wo ich niemanden kenne, das Rennen mache, wieder zurück – bin ich nicht sicher. Das hat sicher viel mit dem Verein zu tun.

Was ist ein Spinner?

FW: ja eben, den Nordenskiölsloppet machen, das ist eine Spinn-Idee. Die halbe Weltkugel hochfliegen für ein Rennen. 220km - das kann fast nicht gesund sein, und wird sicher „u huere härt“.

Was sind für Dich herausragende mentale Leistungen? Mir fällt zum Beispiel gerade Curdin Perl ein, mit Langlaufski auf den Piz Palü.

FW: Genau, gschpunne. Der Hawaii-Triathlon, den stelle ich mir ... gut, ich bin ein miserabler Schwimmer ... den finde ich krass. Obwohl, im 220er bin ich dann sogar länger unterwegs. Aber nur schon in drei Disziplinen stark sein, das beeindruckt mich. Allein die Vorstellung, dass du im Schwimmen eine Krise hast, und dann kommen noch zwei weitere Disziplinen. Ich merke gerade, mir kommen dabei vor allem Sportarten in den Sinn, die mir fremd sind. Langlaufen ist für mich fassbarer, ich bin auch überzeugt, dass ich den 220er schaffen werde.

Woher hast Du dieses Selbstvertrauen?

FW: Wahrscheinlich schon auch aus dem 115er, den ich gemacht habe. Dass ich den, ohne an die Grenzen zu kommen, in einer guten Pace durchgestossen habe. Damit habe ich schon mehr als die Hälfte (des Nordenskiöldsloppet) absolviert. Dazu kam: ich war die ganze Strecke über alleine unterwegs – ganz im Gegensatz zum Wettkampf, wo man häufig in einer Gruppe unterwegs ist – was wesentlich angenehmer sein kann. Ich wusste also: der 220er ist machbar. Deshalb meinte ich: der 115er ist mentale Vorbereitung. Das Wissen zu haben: ich kann weit über 100 machen, ohne völlig kaputt zu sein.

Es wäre jetzt auch möglich, einen schwarzen Tag zu kassieren. Bereitest Du das vor, denkst Du darüber nach?

FW: Ich habe das noch nie erlebt.

Noch nie schwere Beine gehabt am Anfang?

FW: Schon, aber das zeigt mir die Erfahrung zum Beispiel aus zwei Vasaläufen und anderen langen Rennen: Krisen hat man, aber wenn du sie ignorierst, gehen sie auch wieder vorbei. Das hatte ich noch in jedem Rennen mal, so im Stil von: erst dreissig Kilometer und schon müde Arme. Zehn Kilometer weiter habe ich dann gemerkt: die Arme sind überhaupt kein Problem mehr. Solche Phasen muss man einfach überwinden, sich durchbeissen. Eigentlich bin ich am Kämpfen, sollte aber noch nicht am Kämpfen sein – das vergeht. So etwas hatte ich in jedem langen Rennen. Bei den ersten zwei Rennen habe ich dann jeweils Tempo rausgenommen, später aber gedacht, nein, eigentlich kannst du das Tempo auch durchziehen.

Hast Du auch Hochgefühle?

FW: Hochgefühle? Das ist der Hauptgrund, dass ich solche Sachen mache. Bei Langdistanzrennen überkommen mich die Emotionen regelmässig auf den letzten Kilometern. Sobald der Gedanke aufkommt "Jetzt habe ich es geschafft", rasen mir Ameisen durch den ganzen Körper und das eine oder andere Tränchen sammelt sich in den Augen. Was dann in absoluten Glücksgefühlen im Ziel kumuliert. Im etwas kleineren Rahmen habe ich das auch, wenn ich im Training meine persönliche Grenze verschiebe. In diesem Fall war mein alter Distanzrekord auf Rollskis ca. 90km. Auf den letzten Kilometern des 115ers waren die Emotionen vergleichbar. Vasaloppet-Light quasi.

Florian, vielen Dank für das Gespräch.

Der geneigte Leser, die interessierte Leserin erinnert sich: vor einer Woche endete ich mit meiner mentalen Vorbereitung für den Jungfrau Marathon. Irgendwann wird jede Vorbereitung obsolet, die Bewährungsprobe konkret. Nicht diskutiert werden soll an dieser Stelle das Tapering – die physische Vorbereitung der letzten zwei Wochen und zwei Tage.


Rosenkohl-Fenchel-Salat: für die einen eine Delikatesse, für mich die Kombination der zwei schlimmsten Gemüsearten.

In bezug auf das obige Bild fragt sich: was hat das mit dem Wettkampf zu tun? Dem folgt die Frage, was tun, wenn der besagte Wettkampf ein Menü bereithält, das mir nicht passt. Es gibt genau zwei Gemüsesorten, gegen die ich eine echte Lebensmittelaversion hege. In bezug auf den kommenden Wettkampf könnte man das folgendermassen in Beziehung zueinander setzen: Wetter = Rosenkohl und kaum vorhandenes Training = Fenchel. Ich kündigte bekanntlich an, den Marathon nur bei schönem Wetter zu laufen. Die Chancen stehen üblicherweise gut, der Jungfrau Marathon fand bislang häufiger bei angenehmem Wetter statt. Nicht so bei mir.


Rosenkohl

Während der Anreise zogen immer mehr Wolken auf, beim Umziehen wurde es dunkel und rund 30 Sekunden vor dem Start begann es zu regnen. Da es gleichzeitig gerade mal 10° warm respektive kalt war, wusste männiglich bereits hienieden, dass es oben auf der kleinen Scheidegg schneien würde. Der Sieger sollte später tatsächlich im Schnee ankommen.


Fenchel

Gleichermassen aufbauend war der Speaker, der fürs Publikum vorrechnete, wieviel Vorbereitung so ein Marathon benötigt, dass Läufer jahrelang viele Stunden und Kilometer dafür trainieren. In diesem Moment ging mir durch den Kopf, dass es vielleicht doch nicht so eine gute Idee ist, hier mitzurennen.

Ein echter Fenchel-Rosenkohl-Salat. Aber ich liess mich mitreissen von der sommerlich aufgeheizten, wenn auch durch Regen abgekühlten Atmosphäre. Frei nach dem Motto: jetzt erst recht.


Salat

Unmittelbar nach dem Start regnete es nicht mehr – es schüttete. Zehn Kilometer lang, bis ungefähr Zweilütschinen. Dann liess der Regen ein wenig nach. Der Aufstieg nach Wengen war sogar mehr oder weniger trocken.

Diesen Abschnitt rannte ich bewusst nicht. Vor dem Rennen war mir klar, wenn ich das renne, stolpere ich anschliessend nur noch. Deshalb lief ich zügig. Das klappte wunderbar und oben bei Wengen, wo es wieder mehr oder weniger flach wird, peitscht dich das Publikum vorwärts – Momente, wo mentales Arbeiten quasi unnötig ist, die Motivation steigt ins Unermessliche, man freut sich tatsächlich und geniesst den Augenblick. Denn hinter dem Ortsausgang wird’s wieder ruhig, Wengen bleibt zurück, es wird einsamer, man ist wieder bei sich und nur sich angelangt. Auch hierfür hatte ich ein Programm, das vorsah, nun regelmässig Cola und Wasser zu trinken. Cola gibt einem das Gefühl, wieder zu Kraft zu kommen – was einen beflügelnden Effekt hat.


Beilage: Krise

Ich hatte bislang keine einzige Krise. Bis zur Abzweigung Wixi bei Kilometer 39. Hier wird’s richtig steil. Rechts fällt der Eigergletscher (den ich aufgrund dichten Nebels notabene nicht sehe), und nachdem ich 39 Kilometer lang wie auf einer Wolke schwebte, falle nun auch ich. Bei buchstäblich jedem Schritt überlege ich, aufzugeben. Der einzige Grund, weshalb ich es nicht tue: ich muss ohnehin hoch. Die Alternative „runter“ ist eigentlich keine, da viel weiter bis zum rettenden öffentlichen Verkehrsmittel. Ausserdem warten in der Scheidegg meine wärmenden Klamotten. Irgendwann bin ich oben, versuche ein Lächeln für den Fotograf und renne wieder.


Dessert

Im Gegensatz zu Spitzensportlern ist mir die Zeit egal, fast jedenfalls. Ich habe die gesteckten Ziele zu einem grossen Teil erreicht, was zu mehr Zufriedenheit als Unzufriedenheit führt. Auf der Heimfahrt rekapituliere ich und mehr und mehr kommt Stolz. Auch am nächsten Tag hält das Gefühl an und noch heute, zwanzig Jahre später, stelle ich fest, dass der Jungfrau-Marathon einer meiner schönen Wettkämpfe war. Trotz Dauerregens, trotz der Tatsache, dass ich weder den Eiger noch den Gletscher gesehen habe, trotz des Umstandes, auf den letzten drei Kilometern grausam gelitten zu haben.


In der nächsten Folge geht es um die Nachbearbeitung des Wettkampfes – was so was wie die Vorbereitung für den nächsten Wettkampf darstellt.

Wo, oder besser: wann fängt mentales Training an? Wie fängt man es an? Setzt man sich hin und macht mal ein wenig Meditation? Oder stellt sich vor den Spiegel und sagt: du bist ok? Tja, es ist nicht damit getan, sich ok zu finden. Das ist eine gute Voraussetzung für vieles, wenn nicht gar für das ganze Leben. Wer sich nicht ok findet, wird mehr Mühe bekunden, eine gewisse Lebenszufriedenheit zu erlangen wie jemand, der sich ok findet. Das ist einfach so (und ist auch ein bitzeli Küchenpsychologie, ich weiss).


Mentaltraining hat was von Küche – ohne verschiedene Zutaten schmeckt's fad.

Machen machen machen

Mentales Training muss angewendet werden. Grob gesagt: wenn ich mich vor den Spiegel stelle und mir mantrahaft vorstelle oder laut sage, dass ich ok bin, muss ich das so lange tun, bis ich es glaube. Und wenn ich es (vor dem Spiegel) dann glaube, muss es auch draussen im Dschungel umsetzbar sein. Denn vor dem Spiegel lässt sich vieles sagen (und glauben). Wer an sich glauben will, muss raus, muss losrennen und immer noch an sich glauben. Muss dann einen Wettkampf bestreiten, bei dem er an sich glaubt, an sich und seine Fähigkeiten, und vor allem an den Sieg (wie auch immer der geartet sein mag).


Der Selbstversuch: Vorüberlegungen

Dies war die Voraussetzung für einen Selbstversuch, der in der Konsequenz dazu führen sollte, den Jungfrau-Marathon zu bestreiten ohne viel körperliches, dafür mit viel mentalem Training. Grundsätzlich, könnte man sagen, eine bescheuerte Idee.

Soviel sei gesagt: ich bin im Ziel angekommen. Und ich war zufrieden mit meiner Leistung. Naja, nicht ganz, aber ich konnte mich unter der Voraussetzung der mangelhaften körperlichen Vorbereitung eigentlich nicht beklagen. Womit eines bereits gesagt ist, was in Teil 2 angesprochen wurde. Ohne körperliches Training sollte man keinen Marathon bestreiten. Oder wenigstens nicht erwarten, die Vorjahreszeit zu unterbieten. Oder andere arg hochgesteckte Ziele zu erreichen. Dergleichen hatte ich aber nicht, nicht wirklich. Mein Ziel war es – das klingt ein wenig hochmütig -, den Eiger aus der Nähe zu sehen. Ich sagte mir, ich werde den Lauf nur bei schönem Wetter bestreiten. Hochmut kommt vor dem Fall, doch dazu später mehr.


Der Selbstversuch: Training

Mein Training sah nun folgendes vor. Erstens klassisches Lauftraining – wobei ich gerade mal einmal 20 Kilometer am Stück lief, sonst eigentlich nur 10-15 Kilometer. Einmal leistete ich mir vier Trainingseinheiten in einer Woche, meistens nur zwei oder drei. Ich kam in zwei Wochen auf immerhin 50 Wochenkilometer. Das ist vergleichsweise wenig für einen Marathonlauf dieser Härte.

Das zweite Element sah gewisse Psychomotorisierungsmethoden vor: Visualisieren, Mentalsimulation. Ich stellte mir den Wettkampf vor und mich in diesem. Normalerweise wird das für wesentlich kürzere Wettkampfformen angewendet, ich wollte versuchen, das auszudehnen – mindestens für einzelne Stellen.

Drittens verliess ich mich auf eine Methode, die mir in einem Ironman bereits geholfen hatte und die nirgends als Psychomethode bekannt ist. Dazu diente mir ein kleines Büchlein: Zen in der Kunst des Bogenschiessens von Eugen Herrigel. Das klingt für alle, die das Buch kennen, möglicherweise eigenartig. Mir half es damals auf der Radstrecke, auf der von Hitze über Sturm zu Gewitter alles zusammenkam.

Viertens versuchte ich mich ausdauernd in Entspannungsmethoden – wo es mir sinnigerweise die Progressive Muskelrelaxation angetan hatte, aber auch gewisse, sehr einfache Meditationsformen, die dabei helfen sollten, schnell zu entspannen.

Und schliesslich etwas vom in meinen Augen effizientesten: Stresstraining. Im Training Stress verursachen, damit im Wettkampf eine ähnliche oder gleiche Situation eben nicht mehr zu Stress führt. Eine bekannte und gerade in langdauernden Ausdauerwettkämpfen in meinen Augen unerlässliche Methode. Ein Platten beim Radfahren verursacht Stress. Man verliert zwar kaum Zeit, trotzdem sind die meisten gleich komplett aus dem Häuschen.


Teil 2 folgt in Kürze

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